Landespressekonferenz von BLV, IHK und HWK
Veröffentlicht am 7. September 2022
BLV, die IHK Stuttgart und die HWK Region Stuttgart fordern in ihrer gemeinsamen LPK zum Schuljahresanfang eine echte Bildungswende für mehr berufliche Bildung.
- Berufliche Orientierung muss in allen Schularten ab Klasse 5 fester Bestandteil sein.
- landesweit „runden Tisch zur Berufsorientierung“ einrichten
- Für die Integration in eine Berufsausbildung müssen Unterstützungsangebote wie Ausbildungsbegleiter, Ausbildungsmanager und Jugendberufshelfer weiter finanziert und ausgebaut werden.
- Höhere berufliche Bildung zählt so viel wie ein Studium – Fachschulen stärken
Stuttgart, den 7. September 2022 „Baden-Württemberg braucht mehr berufliche Bildung, um seine Zukunft zu sichern. Bei den Südwestunternehmen in Industrie, Handel und Dienstleistung werden aktuell noch Tausende Auszubildende gesucht. Die beruflichen Entwicklungschancen für junge Menschen sind außerordentlich gut“, sagt Andrea Bosch, Geschäftsführerin Berufliche Bildung und Fachkräfte bei der IHK Region Stuttgart. Auch die Handwerkskammer sieht dringenden Handlungsbedarf: „Der Fachkräftemangel im Handwerk wird mehr und mehr zu einem volkswirtschaftlichen Problem. Dabei bietet das Handwerk attraktive Berufsperspektiven“, stellt der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Region Stuttgart Peter Friedrich fest. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, der brutale und menschenverachtende Überfall Russlands auf die Ukraine, Klimaschutz und Energiewende erfordern eine Neubewertung eingespielter Denk- und Handlungsweisen. Dies gilt mehr denn je auch in der Bildung. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht nur eine Klima- und Energiewende, sondern auch eine Bildungswende brauchen. Dabei spielen die beruflichen Schulen eine zentrale Rolle. Fachkräftesicherung und wirtschaftliche Transformation werden nur mit mehr beruflicher Bildung gelingen“, so der BLV-Vorsitzende Thomas Speck.
Gemeinsam fordern BLV, HWK und IHK eine echte Bildungswende für mehr berufliche Bildung in Baden-Württemberg.
Bereits 2020 lobte die OECD die Berufliche Bildung: Sie sei eine der Stärken des deutschen Bildungssystems und werde eine Schlüsselrolle in der Erholungsphase nach der COVID-19-Pandemie spielen. Beim INSM-Bildungsmonitor, der im August vorgestellt wurde, erreicht BaWü den 3.Platz für die berufliche Bildung im Land und mit 93,6 Prozent bundesweit die höchste Erfolgsquote bei den Abschlussprüfungen der dualen Ausbildung aller Bundesländer. Dies zeigt, dass Ausbilderinnen und Ausbilder in den Betrieben, Schulleitungen und Lehrkräfte wissen, wie beste Bildung geht. Leider nimmt die Öffentlichkeit kaum Notiz davon. Duale Ausbildung und die höhere berufliche Bildung mit Techniker-, Fachwirt, IT-Spezialist und Meisterabschlüssen bieten mehr denn je beste Karrierechancen. Und trotzdem ist die Zahl der jungen Menschen, die sich auf einen Ausbildungsplatz bewerben, weiter rückläufig: Die Zahl der gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber ist im Vergleich zum Vorjahr um 3,1 Prozent (1.492) auf 47.171 gesunken. Die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen ist im Vorjahresvergleich um 7,8 Prozent (5.461) auf 75.192 gestiegen. Im Juli waren noch 35.912 gemeldete Berufsausbildungsstellen unbesetzt.
Angesichts eines riesigen Fachkräftemangels können wir es uns schlicht und einfach nicht mehr leisten den Schwerpunkt allein auf die Studienorientierung zu legen. Politik und Gesellschaft sind gefordert den Wert der beruflichen Bildung viel mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen und die berufliche Orientierung in allen Schularten nachhaltig zu stärken.
So berichtete das Wirtschaftsministerium im April dieses Jahres von Ergebnissen einer Lehrerbefragung im Schuljahr 2020/2021. Danach sind Jugendliche weniger beruflich orientiert und wissen häufig nicht, was sie im Anschluss an die allgemeinbildende Schule machen wollen. Bereits 2017 veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft eine Untersuchung zur Bildungsentscheidung von Abiturienten für Ausbildung oder Studium. Inzwischen bricht fast ein Drittel vorzeitig das Studium ab. Das zeigt, dass die Entscheidung für ein Studium nicht für alle Studienanfänger optimal ist. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen insgesamt deutliche Informationslücken bei Abiturienten auf, die zu selten Angebote zur Berufsorientierung wahrnehmen, was auch an den fehlenden Angeboten vieler Gymnasien liegt. Die Autorinnen stellen fest, dass es wichtig sei, die Berufsberatung in der gymnasialen Oberstufe deutlich zu intensivieren und nicht einseitig auf das Studium auszurichten. Bestehende Informationsangebote müssen noch besser wirken können, denn was man nicht kennt, macht man auch nicht. Daher müssen die Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen und besonders auch die Eltern viel besser miteinbezogen werden.
Dazu passt auch der Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Schulgesetzes (Drucksache 17 / 2861). Der Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, die Berufsorientierung zu stärken und die Gleichwertigkeit von Studium und Ausbildung in der Berufsvorbereitung an den Gymnasien zu verankern. Im Rahmen der beruflichen Orientierung müssen in allen Schularten sowohl die Vorteile des Studiums als auch der beruflichen Ausbildung klar und ergebnisoffen an die Schülerinnen und Schüler kommuniziert werden. Mit Blick auf das Gymnasium sollte dieser Auftrag auch in § 8 Absatz 1 Satz 1 des Schulgesetzes verankert werden. Derzeit ist dort lediglich die Studierfähigkeit als Zielgröße festgeschrieben.
Praktika, Berufecasting, Projekte mit Ausbildungsbotschaftern auch an Elternabenden und Kooperationen mit beruflichen Schulen und Betrieben müssen noch mehr gefördert und weiter ausgebaut werden. Die Lehrpläne müssen verbindliche Zeitfenster für praktische Berufserlebnisse erhalten. Viele Lehrkräfte berichten, dass Sie zu wenig Zeit für Kooperationen mit Betrieben und beruflichen Schulen hätten. „Zwar sehe ich von Seiten des Kultusministeriums erste Ansätze, aber für mehr berufliche Bildung müssen alle Schularten gemeinsam anpacken. Bis jetzt laufen zu viele Angebote ins Leere. Berufliche Orientierung ist wie Lesen, Schreiben und Rechnen unverzichtbare Grundlage für jede erfolgreiche Bildungskarriere und muss ab Klasse 5 zum festen Bestandteil im Schulalltag werden“, fordert der BLV-Vorsitzende Thomas Speck.
Es braucht dringend einen landesweiten „runden Tisch zur Berufsorientierung“ an dem Vertreterinnen und Vertreter aus Kultus-, Wirtschafts- und Sozialministerium, Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, Unternehmen und Gewerkschaften, der Arbeitsagentur, Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft sowie Schulleitungen und weiterer wichtiger Beteiligter zusammenwirken sollten.
Eine erfolgreiche Berufsausbildung bedeutet Zukunft. Dies gilt für alle Schülerinnen und Schüler. Auch für diejenigen, die Unterstützung und Förderung besonders nötig haben – und die wir als Gesellschaft sowohl für unsere Gemeinschaft als auch als Teil einer funktionierenden Wirtschaft brauchen. Diese Gruppe nicht in den Blick zu nehmen, wäre fahrlässig. Gerade die beruflichen Schulen leisten seit Jahren herausragende und engagierte Arbeit bei der Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und geflüchteter junger Menschen. Auch in Zukunft wird Baden-Württemberg auf den Zuzug von Arbeitskräften angewiesen sein. Um einen erfolgreichen Übergang zwischen Schule und Beruf zu unterstützen, braucht es an der Schwelle zur Berufsausbildung ein abgestimmtes Übergangsmanagement. So können wichtige Grundlagen gelegt und Ausbildungsabbrüche verhindert werden.
Für die Integration in eine Berufsausbildung müssen Unterstützungsangebote wie Ausbildungsbegleiter, Ausbildungsmanager und Jugendberufshelfer weiter finanziert und ausgebaut werden.
Nach wie vor herrscht die Meinung vor nur ein Studium biete sichere Berufsperspektiven, guten Verdienst und gesellschaftliches Ansehen. Leider hat sich dieses Denken über Jahre hinaus manifestiert. Wahr ist, dass auch eine Ausbildung gute Perspektiven bietet und zudem den Weg für diverse Aufstiegsfortbildungen ebnen kann, die zu einem großen Teil Zugang zu – im Vergleich zu einem Studium – gleichwertigen oder auch besseren Einkommens- und Karriereperspektiven eröffnen. Fachschulen mit Ihren Weiterbildungsangeboten und Zusatzqualifikationen bilden auf höchstem Niveau für das mittlere Management (Fachwirt, Meister, Techniker, IT-Spezialist) aus. Immer mehr Studienangebote stehen in direkter Konkurrenz zu Fachschulen. Solche Doppelstrukturen sind in Zeiten knapper Ressourcen inakzeptabel, Studienangebote müssen reduziert, Fachschulen gestärkt werden.
Die höhere berufliche Bildung muss gestärkt und gefördert werden. Der Besuch der Fachschulen muss kostenfrei werden.
BLV zum IT-Support: IT-Systeme an beruflichen Schulen in Gefahr
Die IT-Systeme an beruflichen Schulen sind inzwischen sehr leistungsfähig, vielfach hoch komplex und ausdifferenziert. Sie bilden die aktuellen Transformationsprozesse von Industrie und Handwerk im Bereich der Digitalisierung ab. Die Schulnetzwerke sind vergleichbar mit denen mittelständischer Unternehmen. Ihre Betreuung liegt hauptsächlich bei den schuleigenen Netzwerkbetreuern (schuleigene Informatiklehrer oder IT-affine Lehrkräfte) und ist in vielen Fällen aufwendiger als die Pflege der Verwaltungs-IT der Schulträger selbst. Ohne IT-Support liefe an den Schulen nichts mehr. Unterricht und Schulverwaltung werden immer digitaler. Das fängt bei digitalen Infoboards an und geht bis hin zu komplexen digital gesteuerten Produktionsanlagen. Das Kultusministerium und die Landesregierung verhandeln aktuell mit den kommunalen Spitzenverbänden (Städte- und Landkreistag) im Land zur Schulträgerschaft im 21. Jahrhundert. Dabei geht es auch um die zukünftige Ausgestaltung des IT-Supports an Schulen. Zukünftig sollen die Schulträger den IT-Support an den Schulen zu einem größeren Anteil bereitstellen.
„Ich warne nachdrücklich davor, die Betreuung der Schul-IT durch die als Netzwerkbetreuer tätigen Lehrkräfte zu kürzen, ohne dass ein funktionierendes Unterstützungs- oder Ersatzsystem vorhanden ist. Je nach Bedarfslage müssten die Anrechnungsstunden eher noch erhöht werden um die tatsächlichen Bedarfe an den Schulen sicherzustellen. Auf keinen Fall darf die Expertise der als Netzwerkbetreuer tätigen Lehrkräfte zur digitalen Unterrichtsentwicklung und deren Innovationskraft verloren gehen“, fordert Thomas Speck.
BLV-Forderungen:
• Bereitstellung von IT-Stunden an Lehrkräfte (Netzwerkbetreuer) in ausreichendem Maß
• Eine realistische Ermittlung des IT-Bedarfs auf Basis aktueller Daten z.B. Zahl der Endgeräte, Befragung der Netzwerkbetreuer und Schulleitungen
• Keine überstürzte Kürzung der Netzwerkstunden ohne ein funktionierendes Unterstützungssystem!
• Pilotversuch zur Erprobung der teilweisen Übertragung von Aufgaben auf den externen IT-Support des Schulträgers
BLV zur Lehrkräftegewinnung
„Zukünftig muss es gelingen mehr Lehrerinnen und Lehrer in den Mangelfächern zu gewinnen, ansonsten droht auch an den Beruflichen Schulen ein Lehremangel wie wir ihn im Moment an den Grundschulen erleben“, prognostiziert der BLV-Vorsitzende. Dazu braucht es auch weiterhin eine engagierte und mutige Lehrergewinnung, so dass insgesamt die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen nachhaltig gesteigert wird. Vor diesem Hintergrund bewertet der BLV die diesjährige Lehrereinstellung als richtigen Schritt. Das frühzeitige Einstellungsverfahren und die Gesamtzahl der Stellen (ca. 1.150) sind erfreulich. Dies muss unbedingt so fortgesetzt werden. Leider mangelt es nach wie vor an geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern. Die Zahl der angehenden Lehrkräfte (Referendare) an den beruflichen Schulen ist von 2017 bis 2021 nach Angaben des statistischen Landesamtes um ca. 16 Prozent (-150 Personen) gesunken. In diesem Jahr konnten im gewerblich-technischen Bereich gerade einmal 50 ausgebildete Lehrkräfte eingestellt werden. Dies ist ein neuer Tiefpunkt. Während die Kultusministerin kürzlich bei einer Debatte im Landtag noch davon sprach, dass im allgemeinbildenden Bereich die Lehramtsstudienplätze besetzt werden können, berichten die Universitäten der Berufspädagogik vor allem im gewerblich-technischen Bereich z.B. beim KIT Karlsruhe von zurückgehenden Studierendenzahlen.
Es braucht konkretes Handeln für mehr Lehrernachwuchs. „Referendarinnen und Referendare müssen Anfang August, ohne Arbeitslosigkeit in den Sommerferien eingestellt werden. Dazu zählt auch die Übernahme von bereits mehrjährig befristet beschäftigten Lehrkräften“, fordert der BLV-Vorsitzende. Die Kampagne des Ministeriums für das Lehramt an beruflichen Schulen muss dauerhaft auf die sozialen Medien auch mittels Videoclips ausgeweitet werden. Für Finanzämter und Polizei werden immer wieder große Werbekampagnen aufgelegt, warum nicht für das Lehramt an beruflichen Schulen. Auch auf Ausbildungsmessen braucht es mehr Werbung für das Lehramt an beruflichen Schulen. Mehr Informationen müssen die Abiturienten an den beruflichen Gymnasien erreichen. Nach wie vor empfehlen wir auch eine Einstellungsgarantie für Lehramtsstudierende.
„So verliert man den Wettbewerb um die besten Köpfe, gewinnt keine Experten und beseitigt auch nicht den Lehrermangel im beruflichen Schulwesen“, erklärt der BLV-Vorsitzende enttäuscht.
Hier finden Sie die Pressemitteilung als Pdf zum Download.
Kontakt/Ansprechpartner:
Handwerkskammer Region Stuttgart
Gerd Kistenfeger (gerd.kistenfeger@hwk-stuttgart.de)
Telefon 0711 1657-253 // Mobil 0175 5724984
Pressesprecher
Industrie- und Handelskammer Stuttgart
Franziska Stavenhagen (franziska.stavenhagen@stuttgart.ihk.de)
Telefon 0711 2005-1317
Pressesprecherin
Berufsschullehrerverband Baden-Württemberg
Katharina Weik (k.weik@blv-bw.de)
Telefon 0711 48 98 37-23
Pressearbeit
Veröffentlicht am 7. September 2022