Berufliche Schulen unter Druck – Dauerbaustellen werden nicht angepackt

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Veröffentlicht am 11. September 2025
Pressemitteilung zur Landespressekonferenz
BLV fordert mehr Lehrerstellen und mehr Förderangebote für Auszubildende
Schülerleistungen alarmierend – TOSCAneo-Studie wird ignoriert
Kein Abbau der Überstundenwelle – Musterkläger erfassen Mehrarbeit
„Die Probleme wachsen uns über den Kopf. Ich fordere endlich mehr Unterstützung für die beruflichen Schulen. Lehrkräfte und Schulleitungen werden immer wieder hingehalten. Es braucht dringend mehr Förderangebote für Schülerinnen und Schüler“, stellt der BLV-Vorsitzende Thomas Speck zum Schulstart fest.
Bei der aktuellen Lehrkräfteeinstellung mussten die beruflichen Schulen erneut eine demographische Rendite erbringen. Dadurch reduzierte sich die Zahl der Lehrerstellen zunächst auf 1.011 Deputate (Vorjahr 1.050 Deputate). Im gesamten Einstellungsverfahren gelang es Schulleitungen und Schulverwaltung deutlich mehr Direkteinsteiger/-innen sowie Einstellungen aus dem allgemeinbildenden Bereich vorzunehmen. Zusätzlich können an den beruflichen Schulen 100 weitere Lehrkräfte aus dem Stellenkontingent der 1.440 „Geisterstellen“ von den allgemeinbildenden Gymnasien ausgeliehen werden. Diese müssen aber genau dann zurückgegeben werden, wenn ab 2030 viele Lehrkräfte in Ruhestand gehen und gleichzeitig mehr Schüler die beruflichen Schulen besuchen werden. Damit erreichen die beruflichen Schulen eine Unterrichtsversorgung von knapp 100 %, jedoch leider nur auf dem Papier. Krankheitsbedingte Ausfälle oder Elternzeiten können damit leider nicht abgedeckt werden und führen direkt zu neuen Überstunden. Völlig ungelöst bleibt dabei, dass Lehrkräfte beruflicher Schulen einen Überstundenberg von 2.000 Deputaten aufgebaut haben. Hierzu gibt es auch eine spannende Landtagsanfrage (Drucksache 17/9142) von der FDP. Aus der Antwort des Kultusministeriums geht hervor, dass allein im Stadtkreis Stuttgart die Überstunden an den beruflichen Schulen von 2020 bis 2025 kontinuierlich zwischen 2.157 und 2.544 Stunden lagen.
Noch immer ist nicht klar, in welchen Schularten die 1.440 „Geisterstellen“ verschwinden konnten. Sowohl nach Schüleranteil, was ein Drittel wäre, als auch nach dem Anteil der Lehrkräfte, der 20 % aller Lehrkräfte beträgt, gehen wir aber davon aus, dass mindestens 300 Stellen, eher bis zu 450 Stellen an beruflichen Schulen unbesetzt sind. Der BLV-Vorsitzende Thomas Speck stellt aufgebracht fest: „Die beruflichen Schulen wurden angesichts des riesigen Überstundenbergs bei der Verteilung der zusätzlichen Stellen viel zu wenig berücksichtigt. Schulleitungen und Lehrkräfte können den gestiegenen Herausforderungen damit nicht wirksam begegnen“.
Durchfall- und Abbrecherquoten bei Auszubildenden zu hoch
Laut der aktuellen Ausbildungsumfrage der IHK Baden-Württemberg klagen Betriebe häufig über Defizite bei Schulabgängern: Belastbarkeit und Grundkompetenzen fehlen. „Wo bleiben flächendeckende Zusatz- und Förderangebote in der dualen Ausbildung, gerade auch für die Beziehungsarbeit, die immer wichtiger wird? An beruflichen Schulen muss diese Aufgabe endlich gesehen und mit der benötigten Zeit ausgestattet werden“, so der BLV-Vorsitzende. Als Folge haben immer mehr junge Menschen keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie sind abhängig von Helferberufen, prekären Beschäftigungsverhältnissen und von sozialen Transferleistungen. Gleichzeitig beklagt die Wirtschaft trotz Rezession einen riesigen Fachkräftemangel. Die Vertragsauflösungsquote ist laut Bundesinstitut für Berufsbildung BiBB in der Ausbildung kontinuierlich gestiegen; von 23,8 % im Jahr 2019 auf 29,7 % in 2023.
Neben den Ausbildungsbetrieben sind die beruflichen Schulen der zentrale Baustein zur Lösung des Problems. Die berufliche Schule kann sowohl vor der Ausbildung als auch während der Ausbildung ein wichtiger Partner sein, wie das beim hessischen Förderinstrument „QuABB – Qualifizierte Ausbildungsbegleitung in Betrieb und Berufsschule“ der Fall ist. Um sicherzustellen, dass Auszubildende rechtzeitig Unterstützung erhalten, haben die Berater/-innen von QuABB ihre Büros an den hessischen Berufsschulen. Die allermeisten Probleme lassen sich lösen – wenn man rechtzeitig handelt. Die Lehrkräfte der Berufsschulen sind nah an Ihren Schüler/-innen dran und können so frühzeitig auf Unterstützungsangebote hinweisen, wenn Ihnen eine externe Unterstützung der jungen Menschen sinnvoll erscheint. „Es braucht dringend zusätzliche Stellen zur Ausbildungsbegleitung an den Berufsschulen im Land, damit Azubis bei Problemen rechtzeitig beraten werden und professionelle Unterstützung erhalten können“, so der stellv. BLV-Vorsitzende Michael Niedoba.
Wie etwa im Programm der Assistierten Ausbildung der Arbeitsagentur für Arbeit. Bei einer Assistierten Ausbildung (AsA) helfen Ausbildungsbegleiter/-innen, eine Ausbildung zu finden oder abzuschließen. Sie organisieren zum Beispiel Nachhilfestunden oder helfen Probleme im Betrieb zu lösen. Häufig vermitteln Kammern und Schulen die Förderung. Dafür stehen den beruflichen Schulen keine zusätzlichen Ressourcen bereit. Viel muss irgendwie nebenherlaufen, eine vernetzte und abgestimmte Förderstruktur sieht anders aus. „Noch schwieriger wird es bei rein schulischen Ausbildungsgängen wie etwa in Pflege- oder Erzieherberufen. Hier gibt es keine Kammern, also auch kaum externe Unterstützung für Betriebe und Schulen. Die zusätzliche Belastung für Schulleitungsteams, Lehrkräfte und Ausbilder ist riesig“, so die stellv. BLV-Vorsitzende Michaela Keinath.
Laut IHK wird auch die Anwerbung von Azubis aus dem Ausland weitergehen. Im Bereich der IHK Stuttgart starten etwas mehr als 8.000 Azubis in die Ausbildung, davon sind mehr als 1.000 Azubis aus Drittstaaten ohne Fluchthintergrund (z.B. Vietnam 100 Personen, Marokko 46 Personen, Rumänien 45 Personen, Indonesien 28 Personen, …) Damit gibt es an den beruflichen Schulen immer mehr ausländische Azubis. Hier stimmt häufig die Motivation, es fehlen aber Deutschkenntnisse. Gerade hier wäre es wichtig, das Kultusministerium würde auch an den beruflichen Schulen auf evaluations- und wissenschaftsbasierte Maßnahmen, wie sie z.B. das Bundesinstitut für Berufsbildung BiBB vorschlägt, setzen: „Auszubildende aus dem Ausland benötigen i. d. R. kontinuierliche Förderung während der Ausbildung, v.a. im sprachlichen und schulischen Bereich, sowie eine individuelle Begleitung. Sprachbewusstes Ausbilden an den Lernorten und zusätzliche Förderangebote (Berufsausbildungsbeihilfe, Assistierte Ausbildung, berufsbezogene Deutschsprachförderung – insb. Berufssprachkurse für Auszubildende) sollten zielgruppengerecht intensiviert werden und bereits am Beginn der Ausbildung zugänglich sein.“¹
Mit der höheren Vielfalt gehen zugleich auch merklich gestiegene Anforderungen an das Ausbildungspersonal einher. Laut einer aktuellen Bertelsmannstudie² zeigen sich immer mehr Unternehmen bzgl. der Vorbildung der Auszubildenden kompromissbereit. Rund zwei Drittel der Unternehmen (67 %) stellen Jugendliche ein, die nicht über alle geforderten Kompetenzen verfügen. Innerhalb eines Jahres ist der Anteil um fast fünf Prozentpunkte gewachsen. Mehr als ein Drittel (36 %) der Unternehmen stellt sogar Jugendliche mit erheblichem Unterstützungs- oder Förderbedarf ein. Diesen Trend bestätigt auch die Handwerkskammer Baden-Württemberg. In einer aktuellen Umfrage zum Fachkräftebedarf wird ausgeführt, dass die Qualifikationen der Bewerber/-innen häufig nicht zu den Anforderungen passen.³
Leider ist auch das Start-Chancen-Programm für die beruflichen Schulen dürftig ausgefallen. Insgesamt 30 berufliche Schulen von 540 Schulen sind beteiligt, macht einen Anteil von ca. 6 %. Im Bereich des Regierungspräsidiums Tübingen keine einzige berufliche Schule. In Bayern liegt die Quote bei 75 von 580 Schulen, macht 13 %, mehr als doppelt so viel wie in Baden-Württemberg.
Der BLV fordert zur Reduzierung der Abbrecher- und Durchfallquoten in der Berufsschule:
- zusätzlichen Sprach- und Förderunterricht in der Berufsschule (80 Deputate)
- 20 Deputate für Netzwerkarbeit mit externen Partnern wie Agentur für Arbeit (z.B. Assistierte Ausbildung) und Sozialarbeitern (z.B. Ausbildungsmanager)
- Einrichtung von Beratungsbüros an den beruflichen Schulen nach hessischem Vorbild
Schülerleistungen alarmierend – TOSCAneo-Studie wird ignoriert
Die beruflichen Schulen galten lange als der Garant für das soziale Aufstiegsversprechen durch Bildung und für mehr Chancengleichheit. Unter den aktuellen Bedingungen ist dies nicht mehr gegeben. Dies zeigen mehrere wissenschaftliche Untersuchungen und Befragungen. Dazu zählen Bertelsmann-Studien, BLV-Umfragen zum Schulabsentismus und ganz aktuell die laufende Untersuchung der Universität Tübingen zur neuen Oberstufenstruktur der beruflichen Gymnasien (TOSCAneo).
Im Fokus des Projekts steht die Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern zu Beginn der Eingangsklasse/Einführungsphase, d.h. mit welchem Wissenstand starten die Schülerinnen und Schüler an einem beruflichen Gymnasium. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem Schüler/-innen von Gemeinschafts- und Werkrealschulen mit einem Lernrückstand von bis zu zwei Jahren in die Oberstufe starten. Aber auch an Realschulen gibt es große Wissenslücken. Diese Daten, der federführend von Herrn Professor Dr. Trautwein und Herrn Prof. Dr. Nagengast durchgeführten Studie⁴, lassen sich nicht wegdiskutieren und erfordern ein wirksames Unterstützungskonzept. Seit Jahren stehen den beruflichen Gymnasien weniger Ressourcen als den allgemeinbildenden Gymnasien und den Gemeinschaftsschulen zur Verfügung. Und auch der aktuelle Vorschlag des Kultusministeriums, der gerade in der Anhörung ist, sieht erneut keine Anpassung der Stundentafel der beruflichen Gymnasien an die Ressourcen der Gemeinschaftsschulen und der allgemeinbildenden Gymnasien vor. „Das verstehe ich überhaupt nicht. Wenigstens dafür hätte man den beruflichen Schulen die benötigten 80 Lehrerstellen aus dem Topf der 1.440 zusätzlichen Stellen doch geben müssen. Zeit zum Fördern, damit Schüler/-innen ihre Defizite überwinden, gibt es an beruflichen Gymnasien nicht“, so der BLV-Vorsitzende Thomas Speck.
Dazu kommen die Herausforderungen der Integration vieler junger Geflüchteten in den VABO-Klassen der beruflichen Schulen. Auch hier ist die Heterogenität innerhalb einer Lerngruppe riesig. Vor allem ist diese Gruppe in hohem Maße von Schulabsentismus betroffen. Bereits im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte der BLV die Ergebnisse einer eigenen Umfrage zur Situation im VABO. Die Schulen wurden befragt, was ihnen besonders hilft und welche weitere Unterstützung sie für ihre Schülerinnen und Schüler benötigen. Dabei fielen gravierende Unterschiede zwischen AVdual und VABO auf. Gemeinsam forderten der Landesschülerbeirat, die Direktorenvereinigung und der BLV, dass die Unterrichtszeiten und Zusatzstunden auch für das VABO, analog dem AVdual, ausgeweitet werden müssen. BLV-Chef Thomas Speck: „Leider hat sich auch hier bis heute nichts getan, so dass ich noch einmal ausdrücklich mehr Lehrerstellen für Unterstützungsangebote im VABO fordere!“
Der BLV fordert für mehr Förderung an beruflichen Gymnasien und im VABO:
- die Angleichung der Oberstufenformel für mehr Fächer- und Kursangebote an beruflichen Gymnasien (Bedarf: 80 Deputate)
- Förderunterricht an beruflichen Gymnasien um die Befunde von TOSCAneo auszugleichen (Bedarf: 300 Deputate)
- Ausweitung der Stundentafel des AVdual auch auf das VABO (Bedarf: 40 Deputate)
Kein Abbau der Überstundenwelle – Musterkläger erfassen Mehrarbeit
Bereits die 2023 präsentierten Ergebnisse der Arbeitszeitstudie von Universität Mannheim und BLV zeigten, dass Lehrkräfte fast drei Stunden zu viel arbeiten – pro Woche! Es wurde dokumentiert, dass Lehrerinnen und Lehrer, die in Teilzeit arbeiten, überproportional viele Aufgaben zusätzlich wahrnehmen. Schulleitungen und Abteilungsleitungen erreichten eine Jahresarbeitszeit von durchschnittlich 2.166 Stunden, mehr als 20 % über der regulären Jahresarbeitszeit von 1.804 Stunden. Der offizielle Überstundenberg beträgt aktuell ca. 50.000 Überstunden, was 2.000 Lehrerstellen entspricht. Es gibt keine Arbeitszeiterfassung. Zu viele Aufgaben müssen erledigt werden, zählen aber nicht zur Arbeitszeit. Daher erfassen zwei Musterklägerinnen bereits mehrere Monate Ihre Überstunden und eine BLV-Klage zur Erstattung der geleisteten Mehrarbeit wird aktuell vorbereitet. „Schulleitungen und Lehrkräfte sind über viele Jahre in Vorleistung gegangen, jetzt erwarte ich, dass das Kultusministerium eine Zusage zum Abbau der Überstunden gibt und die Mehrarbeit der Lehrkräfte endlich anerkennt“, so der BLV-Vorsitzende Thomas Speck abschließend.
Der BLV fordert zum Abbau der Überstundenwelle und zur Erfassung geleisteter Mehrarbeit:
- eine Reform der Lehrerarbeitszeit inklusive deren Erfassung
- Einführung eines Lebensarbeitszeitkontos
Quellen:
1https://www.bibb.de/dokumente/pdf/Studthoff_Einwanderung_Ausbildung.pdf
2https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Ausbildung_Jugend_Betriebsbefragung_2025.pdf
3https://handwerk-bw.de/fileadmin/media/Publikationen/Umfragen/HANDWERK_BW-_Umfrage_zum_Fachkraeftebedarf_2025.pdf
4https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/wirtschafts-und-sozialwissenschaftliche-fakultaet/faecher/fachbereich-sozialwissenschaften/hector-institut-fuer-empirische-bildungsforschung/forschung/aktuelle-studien/toscaneo/
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Veröffentlicht am 11. September 2025