Landespressekonferenz zum Schuljahresanfang an den beruflichen Schulen
Veröffentlicht am 4. September 2024
„Die Motivation zum Schuljahresanfang an den Schulen ist groß, allerdings sind wir leider mit ungelösten Problemen konfrontiert. So setzt sich bei der Lehrkräftegewinnung die Abwärtsspirale fort und zum aktuellen Schulstart gibt es erneut einen schmerzhaften Rückgang.“
Pressemitteilung des BLV zum Schuljahresanfang an den beruflichen Schulen
- Ausbildungszahlen im Land steigen leicht an – über 325.000 Schüler und Schülerinnen an beruflichen Schulen
- Lehrkräfteeinstellung: Negative Auswirkungen durch G9 – Stellen unbesetzt
- 380.000 junge Menschen ohne Berufsausbildung – Tausende Schülerinnen und Schüler abgetaucht
- BLV fordert Servicestelle für berufliche Orientierung
Stuttgart, den 04. September 2024 Die gute Nachricht: Bei den Ausbildungszahlen gibt es einen leichten Aufwärtstrend, dennoch bleiben zu viele Ausbildungsplätze unbesetzt. Politik und Gesellschaft sind gefordert, den Wert der beruflichen Bildung viel mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen. Mit 325.000 Schülerinnen und Schülern hat Baden-Württemberg das größte Berufsschulsystem Deutschlands. „Berufliche Bildung bietet beste Aufstiegs- und Gehaltschancen für junge Menschen und ist gleichzeitig die Nachwuchsschmiede für den enormen Fachkräftebedarf der Unternehmen und Handwerksbetriebe”, macht der stellvertretende BLV-Vorsitzende Michael Niedoba deutlich. Dies bestätigen auch die Ergebnisse des INSM-Bildungsmonitors. Nur bei der dualen Ausbildung kann Baden-Württemberg noch einen Spitzenplatz belegen. Die Erfolgsquote bei den Abschlussprüfungen der dualen Ausbildung lag im Bundesdurchschnitt bei 88,6 Prozent. Baden-Württemberg erreichte hier mit einer Quote von 92,8 Prozent den besten Wert aller Bundesländer. Angesichts dieser Leistungen ist es unverständlich, dass Baden-Württemberg nicht stärker auf seine beruflichen Schulen setzt.
„Nachdem monatelang die allgemeinbildenden Schulen im Fokus der jetzt anstehenden Schulreform standen, muss jetzt auch mal gut sein. Die beruflichen Schulen müssen endlich mehr in den Blick genommen werden“, fordert der stellvertretende BLV-Vorsitzende Michael Niedoba. Die Lehrkräfte sind konfrontiert mit einer zunehmend heterogenen Schülerschaft, einem hohen Bürokratieaufwand und zu geringer Unterstützung im sozialpädagogischen Bereich. „Es ist höchste Zeit, die beruflichen Schulen gleichberechtigt zu unterstützen, nicht zuletzt um dem gewaltigen Fachkräftemangel erfolgreich zu begegnen. Der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg kann nur Bestand haben, wenn die berufliche Bildung nicht nur in Sonntagsreden gelobt, sondern ernsthaft gefördert wird“, ergänzt Michael Niedoba.
Lehrkräfteeinstellung: Negative Auswirkungen durch G9 – Stellen unbesetzt
„Die Motivation zum Schuljahresanfang an den Schulen ist groß, allerdings sind wir leider mit ungelösten Problemen konfrontiert. So setzt sich bei der Lehrkräftegewinnung die Abwärtsspirale fort und zum aktuellen Schulstart gibt es erneut einen schmerzhaften Rückgang“, stellt Michaela Keinath nüchtern fest. „Seit Jahren wird die Lehrkräftegewinnung schwieriger. Es ist zum Verzweifeln. Politik und Gesellschaft wollen einfach nicht mehr für das wissenschaftliche Lehramt an beruflichen Schulen tun. Das ist die bittere Wahrheit. Die Folgen werden unsere Schülerinnen und Schüler und die Ausbildungsbetriebe spüren“, stellt die stellvertretende BLV-Vorsitzende Michaela Keinath enttäuscht fest.
Historisches Tief: Gerade noch jede dritte Ausschreibung ist erfolgreich
Bei der aktuellen Lehrkräfteeinstellung sinkt die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber insgesamt um mehr als 30 %. Ohne Direkteinstieg können gerade gewerblich-technische Fächer wie z.B. Elektrotechnik und die Fächer Sozialpädagogik (Erzieherausbildung) und Pflege schon seit Jahren nicht ausreichend besetzt werden. Auch bei Bewerberinnen und Bewerbern mit allgemeinbildenden Lehrbefähigungen gibt es einen deutlichen Rückgang (-60 %). Hier zeigen sich bereits die Auswirkungen der Rückkehr zu G9. Bleibt es dabei, tritt ein, wovor wir lange gewarnt haben. Die Rückkehr zu G9 hat negative Folgen für die Unterrichtsversorgung der beruflichen Schulen. Und dies bei leicht steigenden Schülerzahlen. Damit ist jetzt schon klar, dass auch der Direkteinstieg in den Fächern Deutsch und Englisch ermöglicht werden muss. Der Direkteinstieg setzt aber immer direkte Stellenausschreibungen (+ 25%) und somit auch immer mehr Bewerbergespräche an den Schulen voraus. „Bei über 2.000 Ausschreibungen ist gerade noch jede dritte Ausschreibung erfolgreich. Damit steigt der Aufwand der Lehrereinstellung für die Schulleitungen noch einmal deutlich. Hier braucht es endlich mehr Entlastung z.B. durch zusätzliches Verwaltungspersonal. Hilfreich wären außerdem eine höhere Flexibilität bei den Ausschreibungs- und Einstellungsmodalitäten. In der Konkurrenz um Lehrkräfte braucht es auch wirksame Steuerungsinstrumente um an allen Schulen die Unterrichtsversorgung sicherzustellen“, fordert der stellvertretende BLV-Vorsitzende Michael Niedoba.
Höhere Flexibilität, mehr Entlastung für Schulleitungen und Lehrkräfte
Ebenso ist die Ausbildung im Direkteinstieg sehr zeitaufwendig für die betreuenden Lehrkräfte. Auch hier nimmt die Belastung zu. Es braucht weitere Maßnahmen um das Bewerberfeld zu vergrößern, z.B. weitere flexible Anpassungen, wenn erforderliche Berufserfahrungen oder wenige ECTS-Punkte fehlen. In solchen Fällen muss das KM ein Nachholen ermöglichen und eine Einstellungszusage geben. Die Flexibilität muss in allen Bereichen gesteigert werden, ansonsten ist das notwendige Personal nicht zu gewinnen.
Angesichts eines deutlichen Rückgangs bei den qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern, durch die Rückkehr zu G9 nun auch in allgemeinbildenden Fächern, wird die Unterrichtsversorgung an den beruflichen Schulen schlechter werden. „Zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels braucht es dringend ein modernes Jobprofil Lehrer/Lehrerin mit Rahmenbedingungen, die innovatives Gestalten in einer konstruktiven Arbeitsumgebung ermöglichen. Ich fordere mehr finanzielle Anreize und Entwicklungsmöglichkeiten. Lehrkräfte und Schulleitungen brauchen mehr Entlastung. Nicht ohne Grund arbeiten zahlreiche Lehrkräfte heutzutage von Anfang an in Teilzeit, weil die Arbeitsbelastung an den Schulen in Vollzeit in den letzten Jahren zu groß geworden ist“, stellt Michaela Keinath enttäuscht fest.
380.000 junge Menschen ohne Berufsausbildung
Angesichts einer Rekordzahl von 380.000 jungen Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung in Baden-Württemberg und einem gleichzeitig riesigen Fachkräftemangel muss die Politik dieses grundlegende Problem endlich angehen. In der Altersgruppe bis 34 Jahre hat jeder sechste junge Erwachsene in BW keine abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen. Seit 2015 steigt diese Zahl an. Von Jahr zu Jahr ein neuer trauriger Rekord. Der Anstieg der Zahl der jungen Erwachsenen ohne formalen Berufsabschluss ist besonders vor dem Hintergrund eines zunehmenden Fachkräftemangels und der demographischen Entwicklung, kritisch zu bewerten. Hier gilt es, bestmöglich das vorhandene Fachkräftepotential auszuschöpfen und über Unterstützungsinstrumente wieder mehr junge Erwachsene zu einem beruflichen Abschluss zu führen. „Wo bleibt die klare Zusicherung für die dringend benötigten Ressourcen an den beruflichen Schulen? Lehrkräfte und Schulleitungsteams haben viel zu wenig Zeit und kaum ausreichend Unterstützung durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie sonderpädagogischen Fachkräfte um dem immer größer werdenden Problem ausreichend begegnen zu können“, kommentiert Michael Niedoba die aktuelle Lage.
Tausende Schülerinnen und Schüler abgetaucht – Mehr Fördermöglichkeiten für eine erfolgreiche Berufsausbildung notwendig
Aus dem ganzen Land erreichen uns Berichte über abgetauchte Schülerinnen und Schüler. Viele Jugendliche, die nach dem Abschluss oder Abbruch einer allgemeinbildenden Schule berufsschulpflichtig sind, kommen an den beruflichen Schulen überhaupt nicht an. „Unsere geschäftsführenden Schulleitungen haben dann die sehr mühsame Aufgabe, die verschwundenen Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Darunter auch einige ehemalige Gymnasialschüler und -schülerinnen. Gleichzeitig tauchen im Laufe des Schuljahres immer mehr Jugendliche einfach ab und bleiben dem Unterricht fern. Mühsam versuchen Lehrkräfte und die vorhandenen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Kontakt herzustellen. Häufig vergeblich. Aktuell haben wir einfach nicht die Mittel, um diesen Trend zu stoppen. So müssen wir z.B. den Unterricht für Geflüchtete immer wieder kürzen, da zu wenige Lehrkräfte vorhanden sind. Und das, obwohl gerade hier eine intensive Betreuung und Beratung notwendig wäre. Auch aus dieser Gruppe tauchen dann immer wieder Schülerinnen und Schüler ab, die so nie eine abgeschlossene Berufsausbildung erlangen können. Es darf nicht die Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen sein, verschwundene Schülerinnen und Schüler zu lokalisieren. Auch hier bedarf es einer stärkeren Unterstützung durch Verwaltungskräfte“, stellt Michaela Keinath frustriert fest.
BLV fordert Servicestelle für berufliche Orientierung
Nach Hamburger Vorbild fordert der BLV die Einrichtung einer Servicestelle für Qualität in der Berufsorientierung. Neben dem Austausch mit Partnern und Akteuren der beruflichen Orientierung wird hier der Aufbau und die Etablierung von Qualitätsstandards und Strukturen in der Beruflichen Orientierung (BO) in allen Schulformen koordiniert. „Unsere Lehrkräfte sind Expertinnen und Experten, wenn es um berufliche Bildung geht. Darauf könnte die Servicestelle aufbauen und so den Wert der beruflichen Bildung viel mehr als bisher in den Vordergrund stellen. Duale Ausbildung und die höhere berufliche Bildung mit Techniker- und Meisterabschlüssen bieten mehr denn je beste Karrierechancen“, stellt Michaela Keinath fest.
Jeder zweite junge Mensch mit hoher Schulbildung fühlt sich schlecht über berufliche Bildung informiert
Die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie mit dem Titel „Ausbildungsperspektiven 2024“ unterstreichen einmal mehr den Bedarf an qualifizierter Berufsorientierung. Besonders fällt auf, dass nahezu jeder zweite junge Mensch mit hoher Schulbildung sich schlecht über berufliche Bildung informiert fühlt. Darum muss die berufliche Orientierung endlich fest für alle Schularten im Schulgesetz verankert werden. Die berufliche Orientierung benötigt eine breit angelegte praktische Umsetzung mit Praktika und verbindlichen Kooperationen von allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Die Bildungspläne sind so anzupassen, dass auch die erforderliche Zeit zur Verfügung steht und dass endlich mehr lebensweltbezogene Kompetenzen in allen Schulen Thema sind.
Die Kolleginnen und Kollegen freuen sich auf die Schülerinnen und Schüler im neuen Schuljahr und gehen mit Enthusiasmus an ihre Aufgaben. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Missachtung und der fehlende Rückhalt in Politik und der Schulverwaltung, die zu erwartenden Belastungen noch vergrößern. In diesem Umfeld wird es zunehmend schwieriger, junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern. Am Ende der Bildungskette können die beruflichen Schulen nicht alle Versäumnisse aus den Zulieferschulen kompensieren.
Hier finden Sie die Pressemitteilung als Pdf zum Download.
Veröffentlicht am 4. September 2024